Mein Baby weint so viel – ist das normal?
„Die Eltern sind in der Regel sehr verunsichert, wenn Sie zu uns kommen. Sie vertrauen nicht mehr auf das eigene Bauchgefühl, glauben, alles falsch zu machen.“ Uta Sittig bietet mit weiteren Kolleg:innen die Baby- und Kleinkindsprechstunde in unserer Klinik an. Im Interview erzählt die Dipl. Psychologin und Systemische Therapeutin, mit welchen Sorgen Familien in die Sprechstunde kommen und welche Unterstützung sie erwartet.
Mit welchen Sorgen und Fragen kommen die Eltern mit ihren Kindern in die Kleinkindsprechstunde?
Das ist recht unterschiedlich. Oft kommen Eltern zu uns, wenn sie sich Sorgen um das Schlafverhalten ihres Kindes machen. Wenn das eigene Kind nachts immer wieder aufwacht, insgesamt sehr viel weint, viel schreit und sich nicht mehr beruhigt, kann das die Eltern auf Dauer enorm belasten. Geht es meinem Kind gut? Hat es Schmerzen? Wie reagiere ich richtig? Da gibt es dann viele Unsicherheiten. Manchmal geht es auch darum, dass ein Kleinkind extrem klammert. Dann kann die Mutter beispielsweise nicht einmal für fünf Minuten aus dem Raum gehen, ohne dass ihr Kind ängstlich reagiert. Oder es gibt Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme. Im Rahmen der Kleinkindsprechstunde beschäftigen wir uns mit ganz vielen Themen, an denen wir dann gemeinsam mit den Familien arbeiten.
Was erwartet die Eltern, wenn sie einen Termin für die Kleinkindsprechstunde vereinbaren?
Die Eltern kommen gemeinsam mit ihrem Kind in die Sprechstunde. Dann geht es erst einmal darum, sich gegenseitig kennenzulernen und gemeinsam zu schauen, wo die Herausforderungen für die Familie liegen. Wichtig ist natürlich zunächst einmal eine diagnostische Abklärung. Sind somatische Ursachen (wie z.B. Schmerzen oder körperliche Erkrankungen) ausgeschlossen betrachten wir gemeinsam die Eltern-Kind-Beziehung. Gibt es da Unsicherheiten? Wie ist die Interaktion mit dem Kind? Gibt es Konflikte zwischen den Eltern? Belasten die Eltern anderen Themen, die sich auf ihr Kind übertragen? Wir bieten dann eine umfassende Beratung an. Manchmal verweisen wir auch an andere Hilfestellen aus unserem großen Netzwerk. Zum Beispiel, wenn eine Mutter selbst psychotherapeutische Hilfe benötigt.
Wie oft kommen Familien in der Regel in die Sprechstunde?
Auch das ist ganz unterschiedlich. Teilweise können wir schon in einem Erstgespräch erste Impulse geben, was die Eltern in ihrem Verhalten ändern können, um die Situation zu verbessern. Nach einigen Wochen reflektieren wir dann gemeinsam, ob das etwas bewirkt hat. Manchmal reichen zwei oder drei Termine aus, wir haben aber auch schon Familien über ein ganzes Jahr in unterschiedlichen Abständen begleitet.
Wie erleben Sie die Eltern in der Sprechstunde?
Die Eltern sind in der Regel sehr verunsichert, wenn Sie zu uns kommen. Sie vertrauen nicht mehr auf das eigene Bauchgefühl, glauben, alles falsch zu machen. Es gibt viele Mütter, die sich extrem viel informieren, zum Beispiel im Internet, und dann von den ganzen unterschiedlichen Ratschlägen, die sie dort finden, komplett überfordert sind. Oft ist es auch der Vergleich mit anderen Familien, durch den Druck entsteht: Bei denen schläft das Kind durch, warum klappt das bei uns nicht? Es gibt auch traumatisierte Mütter, die zu uns kommen, beispielsweise nach einer sehr schwierigen Geburt oder eine Frühgeburt. Unsicherheiten und Ängste sind vollkommen verständlich und vollkommen normal. Eltern zu sein, bedeutet eine große Verantwortung.
Was ist Ihrer Meinung nach in der Zusammenarbeit mit den Eltern besonders wichtig?
Es ist ganz wichtig, den Blick auf folgende Frage zu werfen: Was läuft gut? Wir unterstützen die Eltern, ihre eigenen Ressourcen wiederzuentdecken und wieder Vertrauen zu sich selbst fassen. Meistens spielen auch die eigenen Gefühle bei den Eltern eine entscheidende Rolle. Was bedeutet es für mich, wenn ich nicht mehr stille? Wie kann ich in bestimmten Situationen loslassen, damit mein Kind sich entwickeln kann? Da braucht es viel Empathie und Verständnis in den gemeinsamen Gesprächen. Es kann auch hilfreich sein, bei den Eltern die Paarebene im Blick zu haben. Manchen Müttern fällt es schwer, ihr Kind in die Verantwortung des Partners zu geben. Fehlt da das gegenseitige Vertrauen, kann das die Beziehung belasten und somit die ganze Familiensituation. Ebenso wichtig ist es, die Eltern dabei zu unterstützen, die Signale ihrer Kinder richtig zu deuten. Kinder brauchen ganz besonders: Geborgenheit, Sicherheit und Führung.
Wie viel Weinen ist denn normal? Ab wann sollte ich professionelle Hilfe suchen?
Das ist schwierig zu sagen. Eltern haben da ein ganz individuelles Empfinden. Neugeborene weinen natürlich sehr viel. Weinen ist die einzige mögliche Art und Weise der Kommunikation für sie. Auch Kinder in der Trotzphase können schon mal eine halbe Stunde weinen oder schreien, ohne dass da direkt die Alarmglocken bei den Eltern schrillen müssen. Kommt es aber immer wieder vor, dass Kinder sich überhaupt nicht mehr beruhigen, macht es Sinn, nach den Ursachen zu schauen.
Wenn mein Kind nachts schreit: Wie sollte ich dann am besten reagieren?
Auch solche Aspekte erarbeiten wir gemeinsam mit den Eltern. Eltern sollten nichts tun, was ihnen komplett widerspricht. Ich würde niemals sagen: Lassen Sie ihr Kind fünf Minuten oder zehn Minuten oder 15 Minuten schreien. Wir schauen gemeinsam mit den Müttern und Vätern, wie es ihnen geht, wenn ihr Kind weint. Wichtig zu wissen: Sind Kinder ca. neun oder zehn Monate alt, sind sie in der Lage zu begreifen, dass die Eltern da sind, auch wenn sie nicht im selben Zimmer sind. Wir versuchen mit den Eltern daran zu arbeiten, wie sie ihr Kind verbal beruhigen können, statt immer wieder hinzugehen und es aus dem Bett zu nehmen. Sie bleiben so mit ihrem Kind in Beziehung, lassen es nicht alleine und fördern dennoch seine Autonomie. Nach und nach wird das immer besser klappen.
Was sind für Sie die schönsten Momente im Rahmen Ihrer Arbeit?
Es ist immer schön zu sehen, wenn unsere gemeinsam erarbeiteten Ideen unmittelbar Wirkung zeigen. Erst heute Morgen hatte ich ein junges Elternpaar mit ihrem einjährigen Sohn hier. Die Mama war sehr verunsichert, unter anderem auch wegen der Corona-Situation, die junge Familie hat sich lange Zeit isoliert, um Ansteckungen zu vermeiden. Ihr Sohn zeigte moderate Schlafprobleme und die Eltern litten bei jedem Weinen enorm mit. Während unseres Gesprächs fing der Kleine im Arm seiner Mama an zu quengeln, er wollte zu seinem Papa. Der Papa hat ihn genommen, da wollte der Kleine wieder zurück zur Mama. So ging das Hin und her. Ich habe die Eltern dann gefragt, was sie ihrem Kind vermitteln möchten. Daraufhin ist der Papa mit seinem Sohn im Arm ein paar Schritte zum Fenster gegangen, hat ihn intuitiv beruhigt, ihn nicht wieder direkt zur Mama gegeben, sondern die Führung und Begleitung übernommen und der Kleine hat sich entspannt. Das sind dann kleine Erfolgserlebnisse, die ich gemeinsam mit den Familien teile – und das ist unglaublich schön.